“Vor langer Zeit wurden in einer Siedlung zwei Zwillingsbrüder geboren. Obwohl der Abstand in der Geburtszeit Minuten zählte, hielt sich der erste Bruder das ganze restliche Leben lang für den Ältesten, und daraus folgend für den Klügeren. Als die Brüder aufwuchsen, geschah es, dass ein Wanderer in ihrem Haus über Nacht blieb. Es war ein Geistlicher und Weiser Mensch. In damaliger Zeit führte das Volk dieser Siedlung einen Krieg mit dem Nachbarvolk. Dieser Krieg brachte den Menschen bereits sehr viel Kummer. Die Brüder fragten den Weisen um Rat.
Der Geistliche Mensch hörte sie an und offenbarte die einfachsten Wahrheiten über das Wesen des Lebens und des Todes. Er erzählte ihnen davon, was in der menschlichen Welt passiert, über die Natur der menschlichen Dualität, darüber was den Mensch in den Fesseln der Unwissenheit hält und wie man sich davon befreien kann. Er sprach auch davon, wie man den wahren Weg findet, seine Seele rettet und dahin kommt, was hinter dem Rand des Lebens und Todes liegt. Zuletzt sagte er:
“Vom Sterben kann man sich nur befreien, wenn man das Wahre begriffen hat. Das Wahre - ist der Reichtum des Inneren. Nur wenn ihr diesen Weg gegangen seid, werdet ihr die Wahrheit begreifen und vom Tod befreit werden.” Jedoch verstand jeder Bruder die Worte des Weisen Mannes auf eigene Art. So wählte jeder von ihnen seinen Weg, um seine eigene Seele zu retten.
Der ältere Bruder entschied sich durch die geistliche Erkennung zu vervollkommnen. Um den Krieg zu meiden, verliess er sein Heimatland. Er reiste durch mehrere Länder, wo er die Religionen der einheimischen Völker studierte und daraus für sich das aussuchte, was er für das Beste hielt, was ihn zum Erlangen “des Inneren Reichtums” führen würde. Letztendlich sammelte er verschiedene Kenntnisse und Erfahrung, und war soweit fortgeschritten, dass er sich für einen Erleuchteten hielt, der mit der Gnade eines Auserwählten begabt wurde. Dabei glaubte er selbst so fest daran, dass die anderen davon ebenfalls überzeugt waren und ließen sich von ihm lehren.
Der jüngere Bruder, dagegen, ging zu den Menschen und fing an ihnen die einfachen Wahrheiten zu erzählen, die er von dem Weisen Mann hörte. Einige waren aufmerksam zu seinen Worten. Die anderen lachten ihn aus, weil sie der Meinung waren, dass in dieser Welt die Herrscher alles entscheiden, die auf die Ratschläge der Götter hören. Schon bald jedoch lauschten sogar diejenigen, die ihn auslachten, weil seine Worte wahrhaftig waren, darin bestand die Wahrheit. Die Menschen sagten ihm, dass sie keinen Krieg wünschen, dass sie niemanden töten wollen und auch selbst nicht sterben wollen. Was soll man denn tun, wenn sie von ihren Herrschern dazu gezwungen werden? Darauf antwortete der Junge:
“Wenn die Herrscher nur zerstören können, aber nichts erschaffen, worin besteht dann ihr Verdienst? Wenn sie keine Macht haben, die Toten auferstehen zu lassen, wie können sie dann die Lebenden zum Tod verurteilen? Einen Zweig von dem Baum kann jeder Mensch abreißen, aber diesen zurück an den Baum anzubringen - kann nur der Meister. Und der Herrscher ist auch nur ein Mensch. Er hat genauso Angst vor dem Tod wie jeder von euch. Deshalb versteckt er sich hinter dem Leben seiner Krieger, wenn er die Befehle erlässt. Ihr aber befolgt seine Befehle. Es gibt nur einen Herrscher, während ihr viele seid. Er belügt euch, wenn er behauptet stark zu sein, denn seine Stärke seid ihr, diejenigen die seinem Willen folgen, trotz eueres eigenen. Wenn die Menschen die Waffen niederlegen, bleibt keiner mehr übrig Krieg zu führen. Die Kraft des Berges beruht nicht auf dem Stein, der auf der Spitze liegt, sondern auf dem Zusammenhalt.”
Die Menschen dachten sich in diese Weisheit hinein und teilten es mit dem Nachbarvolk, mit dem sie Krieg führten. Die Wahrheit wurde aufgenommen. Und die Menschen legten die Waffen nieder. So wurde an diesem Ort dank eines einfachen Jungen, der das wahre Wort des weisen Menschen weitergegeben hatte, der Krieg beendet und es kam zum Frieden. So rettete die Wahrheit mehrere Leben und viele haben zu ihr den Weg gefunden.
Die Zeit jedoch läuft schnell. Die irdischen Jahre der Brüder waren vergangen. So wie sie am gleichen Tag geboren wurden, so starben sie auch. Dank seiner unermüdlichen Strebsamkeit erreichte der ältere Bruder in seiner spirituellen Entwicklung solch eine hohe Stufe, dass er selbst vor dem Wächter erschien, hinter dem sich die Chinvat-Brücke erhob. Und es war ihm gestattet mit eigenen Augen zu sehen, wie sein jüngerer Bruder über diese Brücke ging und wie ihm der Torwächter selbst die Tore zur Ewigkeit öffnete. Das Gesehene erstaunte den hoch geistlichen Bruder so sehr, dass er all seine folgenden neun Wiedergeburten dem geistlichen Weg seines jüngeren Bruders folgte. Er bewahrte das Gesehene in seinem Gedächtnis und erzählte davon den Menschen.