Alte orientalische Sage von einem Eiskristall
Auszug aus dem Buch von Anastasia Novich "Die Vögel und der Stein"
"Hoch in den Bergen, auf einem schneeweiß glitzernden Gipfel wurde ein Eiskristall, so klar, wie die Träne eines Säuglings, geboren. Tagsüber bestaunte er die Sonne, dabei spielte er mit seinen von der Natur kunstvoll geschaffenen Flächen. Nachts erfreute er sich an den Sternen, diese wunderbaren, leuchtenden Geschöpfe betrachtend. Allmählich wuchs er, indem er immer mehr Energie des zärtlichen Himmelskörpers absorbierte. Einmal, als der Kristall so groß wurde, dass er nicht nur den Himmel sondern auch die ihn umgebende Welt betrachten konnte, öffnete sich ihm etwas sehr wundervolles. Die Wolken, die den Fuß der Berge verdeckten, sind gewichen und seinem Blick bot sich ein prächtiges Tal, in ungewöhnliche leuchtende Farben des Smaragds getunkt. Dieser Anblick eroberte den Geist des Kristalls so sehr, so dass in ihm ein brennender Wunsch geboren wurde, um alles in der Welt in diese ungewöhnliche Ecke der Natur hinunterzusteigen und all ihrer Reize wahrzunehmen.
Der Kristall strengte sich mit all seiner Kraft an, um sich in Wasser zu verwandeln, und stürzte sich zielstrebig nach unten. Je schneller er hinunterstieg, desto mächtiger wurde er. Der Strom wurde immer breiter und brodelte, mit ungebändigter Leidenschaft aufkochend. Er raste seinem Traum entgegen, indem er mit einer beneidenswerten Sturheit steinerne Hindernisse, zerstörende Stromschnellen, schwindelerregende Wasserfälle auf seinem Weg überwand. Ihn ergriff der Geist der Neuheit und der Drang seinen sehnlichsten Traum zu erfüllen.
Und dann ist es in einem schönen Augenblick geschehen. Seine Wassermassen fluteten mit einem mächtigen Strom als Fluss das Tal. Wie herrlich waren seine in das leuchtende Grün eingetauchten Ufer! Wie erstaunlich schillerten die Sonnenstrahlen im Wasserspiegel! Wie erfreuten sich alle ringsherum der belebenden Frische des Wassers! Der Kristall fühlte, wie er jede Pflanze mit der berauschenden Feuchte tränkte, mit welchem Genuss diejenigen ihren Durst löschten, die zu seinen Ufern kamen. Er spürte, wie in seinem Wasser neugeborenes Leben plätscherte und er war das Behältnis für dieses Leben. Und das war für ihn das wahre Glück!
So ist sein Leben auch verlaufen. Tagsüber stillte er den Durst aller Durstleidender, und nachts betrachtete er das Spiegelbild des Sternenhimmels in seinem Gewässer, über die wunderbaren Welten staunend und sich an sein weites zu Hause erinnernd. Es kam ihm vor, als würde dieses Glück ewig dauern.
Doch eines Tages erreichten seine Wassermassen plötzlich das Ende des Tals und zerflossen in einen See. Das Leben wurde gleichmäßig und ruhig. Allmählich wurde das einst prachtvolle brodelnde Wasser mit Braunalgen überzogen, während es sich in einen faulen Sumpf verwandelte. Selten besuchte nun jemand diese Ufer... Sein Gewässer hatte nicht die vorherige Kraft und nicht das vorherige Leben. Angst und Verzweiflung ergriffen den ehemaligen Kristall. Er fing an, sich panisch vor der Sonne zu fürchten. Das Erscheinen des Himmelskörpers rief in ihm jedes Mal ein schreckliches Bild hervor, das aus seinem eigenen verdunsteten Wasser gewebt war - die Fata Morgana seines Endes und unerbittlicher Vorherbestimmtheit. Eine nach der anderen entstanden Blasen des Zweifels. Er hatte Angst zu verdampfen, seine Individualität und Freiheit zu verlieren. Die Nacht wurde für ihn zu seinem einzigen Trost, die ihn mit der Frische der früheren Erinnerungen umhüllte. Er blickte mit Sehnsucht zu den leuchtenden Sternen, über die unerreichbaren entfernten Welten seufzend und deren unveränderliche Schönheit bewundernd.
Und einmal, zur Stunde des Sonnenaufgangs, hatte er eine Erleuchtung. Er hat den Sinn des Lebens verstanden, den Sinn der Ewigkeit. Er fühlte tief im Inneren seine wahre Natur, die seine Seele in ihm erweckte! In diesem Moment ist am Horizont die blendende Sonnenscheibe erschienen. "Mein Gott, - brach ein Aufschrei aus den Tiefen seines restlichen Wasser heraus - wie einfach alles ist!" Er stürzte den zärtlichen Strahlen des mächtigen Himmelskörpers entgegen, wobei er sein Wasser in Dampf verwandelte. Eine Windböe fing ihn mit Leichtigkeit auf und trug ihn hoch, weg von seinem gewohnten Raum. Er flog und durchlebte ein wunderbares Gefühl der Schwerelosigkeit und der Neuheit. Erst jetzt verstand er, dass dies wirklich die reelle, von ihm längst vergessene, berauschende, wahrhaftige Freiheit ist. Ihn überfüllte das Empfinden des allumfassenden Glücks, seiner einzigartigen Individualität und im selben Moment der unendlichen Einigkeit mit diesem riesigen überwältigenden Weltgebäude, das, wie sich herausgestellt hat, viel breiter war, als er sich es vorgestellt hatte. "Wie einfach alles ist" - hörte sein Geist nicht auf, zu wiederholen, während er den Flug genoss. "Ja, jetzt kenne ich meine wahrhaftige Natur" - dachte er, indem er sich sanft auf einen der nächsten glänzenden Berggipfel niederließ…"